Baskin

Baskin

(Regie: Can Evrenol – Türkei, 2015)

Unterwegs auf einer routinemäßigen Nachtstreife wird eine Polizeieinheit als Verstärkung zu einem verlassenen Haus gerufen, über das so einige beunruhigende Geschichten kursieren. Auf dem Weg dorthin provoziert eine merkwürdige Kreatur einen Unfall, der die Gruppe zwingt, ihr Ziel zu Fuß zu erreichen – wo sie nur noch auf einen leeren Polizeiwagen trifft. Von den Kollegen fehlt jede Spur. Auf der Suche nach ihnen arbeiten sich die Männer immer tiefer in das Gebäude vor und finden sich plötzlich als ahnungslose Ehrengäste inmitten einer schwarzen Messe wieder: In einer Welt der Finsternis und unvorstellbaren Qualen, aus der es kein Entkommen gibt. In dieser Hölle auf Erden wünschen sie sich bald nur noch den Tod, aber auch der bringt nicht immer die erhoffte Erlösung…

Wenn die Jungs der Kriminalpolizei Istanbul unterwegs sind, zerschneiden die orange-glühenden Scheinwerfer des Streifenwagens die Nacht und legen, zusammen mit den im Takt der Sirene an die Häuserwände geworfenen Blau- und Rotlichtern, den Grundstock der Farbpalette fest, in die “Baskin” getaucht wird, solange die zähe Finsternis der Unterwelt noch durchdringbar ist. Die herzlichen Gesetzesmänner mit den rüden Umgangsformen schlagen die Wartezeit ihres Bereitschaftsdienstes in einem kleinen Lokal tot, wo sie die Grillspeisen des Hauses mit unanständigen Geschichten und Machismo-Prahlereien nachwürzen, die manchmal seltsame Haken schlagen und vor allem dazu dienen, die unterschiedlichen Gemütsverfassungen der Polizisten aufzuschlüsseln: Großmaul und Heißsporn, Zögerer und Zauderer, Vaterfigur und Meister gruppieren sich um den Rookie, der hier Arda heißt und sich seine ersten Sporen verdienen muss.
In der abendfüllenden Spielfilmfassung seines gleichnamigen Kurzfilms “Baskin” aus dem Jahr 2013, zu der Regisseur Can Evrenol von einem enthusiastischen Eli Roth während einer Vorführung im Sitges quasi genötigt wurde, bricht das Bebilderte immer wieder aus dem Rahmen aus, setzt zu bizarren Sprüngen an und offenbart sich erst in der letzten Szene einer größeren, erzählerischen Klammer, die den Bildersturm zusammenhält. Vorher gibt Evrenol die Phantasmagorien, welche den Schrecken der Kindheit mit der Furcht vor dem Sterben und die Faszination der Alpträume mit dem Wunsch nach einem Leben nach dem Tod kurzschließen, keinen Millimeter an das (wunderbar minimale) Narrativ preis: Er schwelgt in Atmosphäre und Gefühlen; sein Kino ist ein Kino des Unterbewussten, der Farben und Symbole, des Okkulten und des Blutes. Sein Kino ist das Horrorkino der späten 70er und frühen 80er Jahre, vornehmlich italienischer Bauart. Wenn Evrenol in Interviews auch auf amerikanische Vorbilder wie John Carpenter verweist, fabuliert “Baskin” selbst von den assoziativ-surrealen Blutgranaten eines Lucio Fulci – oder stellt direkt die Verbindung zu Ruggero Deodatos “Cannibal Holocaust” her, mit ein paar geschickt eingeschobenen Takten des Scores von Riz Ortolani, welcher der grausamen Blendung von Cop Yavuz noch ein paar unangenehme Flashbacks aus dem Brutalitätendschungel hinzufügt.
Die Farbdramaturgie erinnert natürlich an Dario Argento, wenn auch roher und weniger ausgefeilt, der Kult um Baba und seine “Wilden” sind den Höllen- und Fiebervisionen Ken Russells nachempfunden, gesehen durch die Augen von Rob Zombie. Und wie diese drei Genregrößen inszeniert Can Evrenol nicht die Geschichte, sondern das Gefühl, das in den Bildern der Geschichte steckt: Zwei Jungs, die sich nachts in einer dunklen Gasse Gespenstergeschichten erzählen, kindliche Alpträume, die stets das Weglaufenmüssen-aber-nicht-Weglaufenkönnen beinhalten, die latente Sorge um das eigene Seelenheil, die Angst verrückt zu werden und ganz konkret die Vermeidung von Schmerz.
In Anbetracht der aktuellen politischen Lage der Türkei mag das okkulte Tamtam, das einen Höhepunkt in der Vereinigung mit dem hermaphroditischen Ziegenkopfträger Baphomet findet, wie eine groteske Reflexion der geschmacklosen Witzchen wirken, die sich die Turk-Völker durch ihre Nachbarn im Okzident gefallen lassen müssen, viel lauter sprechen hingegen die Taten der konservativen Bevölkerung, die sich durchaus unangenehm berührt und sprachlos zeigte, wenn Can Evrenol seine “Wilden” nackt und blutverschmiert in Linienbussen zum “Abschminken” in öffentliche Bäder fuhr, das Team aber friedlich gewähren ließ. Die Zivilgesellschaft der Türkei scheint toleranter, als so mancher Demokrat es ihr zugestehen möchte.
“Baskin” unterscheidet sich noch in einem weiteren Detail von den Horrorfilmen, die mittlerweile dutzendweise auf den Markt drängen: Er nimmt das Innenleben seiner Figuren nicht nur ernst, er setzt das innere Erleben über Logik und Handlung, traut sich dabei Szenen abzubrechen und umzuwerfen, um sie dem Gefühl zu öffnen und dem Zuschauer unmittelbar erfahrbar zu machen. Das formt “Baskin” zu einem unheimlichen Film, der trotz seiner Pulp-Elemente furchteinflößend wirkt und das Publikum mit seinen knochigen Spinnenfingern zurück in den Sitz zieht, wenn dieses meint, es hätte einen rationalen Weg gefunden sich dem Spuk auf der Leinwand zu entziehen: Das türkische Wort “Baskin” lässt sich mit “Überfall” ins Deutsche übertragen.
Könnte “Baskin” der Startschuss zu einer türkischen Horrorfilmwelle sein, welche die Tugenden der 1970er und 1980er ins 21. Jahrhundert überführt? Can Evrenol arbeitet altmodisch, investiert Unmengen an Zeit und Ideen in Storyboards, Ausstattung, Setdesign und Beleuchtung. Auch die Special FX folgen den Latexvorbildern der alten Meister, das alles bei einem niedrigen Budget, welches nicht mal die Millionengrenze streift. Diese gewissenhafte Arbeitsweise reduziert den Aufwand während der Post-Produktion nicht nur auf ein Minimum, sie sorgt auch dafür, “Baskin” aus einem Guss wirken zu lassen. Und der Soundtrack, als sinistrer Spross von John Carpenter und Goblin zur Welt gekommen, nährt die weitere Hoffnung, die Türkei möge das neue Italien sein. Oder zumindest Can Evrenol der neue Botschafter des Horrorfilms. 8,5/10

Trailer

(Zuerst veröffentlicht bei http://hhp-hangover.de am 24.03.2017)
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